Monster Truck

Marat/Sade

Liberté, Egalité, Pfefferminztee. Zusammen mit den geistig gestörten Insassen einer Nervenheilanstalt probt der Marquis de Sade den Aufstand. Der Tod des Revolutionsführers Jean Marat in seiner Wanne wird wieder und wieder neu gestellt. Wann ist das Bild perfekt? Wer bestimmt über wen? Wer darf wen spielen? Wer bleibt bis zum Ende dabei? Ausgehend von Peter Weiss’ berühmtem Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade inszeniert die preisgekrönte Performancegruppe Monster Truck die Vorlage als Stück im Stück: als Zwangsgemeinschaft in einer geschlossen Klinik, einer reglementierten Behindertenwerkstatt, einer abgegrenzten Theaterbühne – der Willkür von anderen ausgeliefert. Ein Spiel im Spiel zwischen Inklusion und Exekution, Macht und Ohnmacht. Willkommen zur Premiere einer offenen Probe eines unfertigen Stücks. Nonsens statt Konsens. Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Text: nach Peter Weiss Regie, Bühne, Kostüme: Monster Truck Dramaturgie: Tobias Staab Leiterin der Theatergruppe der Lebenshilfe im Zentrum Neue Wege: Ulrike Schweinitz Produktionsleitung: ehrliche arbeit Von und mit: Daniel Beisbart, Jörg Eiben, Rolf Fey, Manuel Gerst, Alexandra Kamulski, Ralf Kons, Roswitha Kons, Anne Nilson, Sahar Rahimi, Lino Reifferscheidt, Nicole Schnippenkötter, Sabine Schrader, Mark Schröppel, Sandra Siewert, Dasniya Sommer, Renate Stahl, Andreas Stebner, Lukas von der Lühe Vielen Dank an: Tugrul Arslanlar, Kai Hermann, Alice Meisberger, Miriam Michel, Gisela Pastoors, Maren Pleßer, Tanja Reifferscheidt, Lena Zänger

Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum und dem NTGent. In Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe Bochum e.V. Mit Unterstützung der Psychiatrischen Klinik Bochum-Ehrenfeld

Gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes

 

29. Jun. 2019
19:30 Uhr

01. Jul. 2019
19:30 Uhr

02. Jul. 2019
19:30 Uhr

04. Jul. 2019
19:30 Uhr

06. Jul. 2019
19:30 Uhr

09. Jul. 2019
19:30 Uhr

10. Jul. 2019
19:30 Uhr

12. Jul. 2019
19:30 Uhr

22. Okt. 2019
20:00 Uhr
NTGent Gent

23. Okt. 2019
20:00 Uhr
NTGent Gent

12. Nov. 2019
19:00 Uhr
HAU Berlin

13. Nov. 2019
19:00 Uhr
HAU Berlin

Sascha Westphal: "Raus aus den Kisten", Nachtkritik, 29.6.2019

Wer darf wen spielen? Welche Freiheiten genießt sie oder er dabei? Und wer agiert im Hintergrund und hält die Strippen der anderen in der Hand? Fragen wie diese durchziehen Peter Weiss' 1964 uraufgeführtes Stück "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade". Allerdings konkurrieren sie fortwährend mit den politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, die im Spiel im Spiel verhandelt werden. So präsent Coulmier, der Direktor der Heilanstalt Charenton, als Regisseur im Stück durch seine ständigen Zwischenrufe und versuchten Eingriffe auch ist, der zentrale Konflikt verläuft doch entlang der Argumentationslinien Jean Paul Marats und des Marquis de Sade. Während der ermordete Revolutionär als Vordenker sozialistischer Ideen für eine radikale Auflösung aller gesellschaftlichen und materiellen Unterschiede eintritt, fordert de Sade einen nicht weniger radikalen Individualismus, der jeglichen sozialen und nationalen Zusammenhalt negiert.

Authentizität als gesellschaftliches Konstrukt

Das Performancekollektiv Monster Truck verschiebt diese Gewichtungen nun ganz deutlich in seiner Bearbeitung von Peter Weiss' Lehrstück-Klassiker. Ausgehend von dem Schauplatz des Spiels, dem Hospiz zu Charenton, in dem zu Napoleons Zeiten neben psychisch Kranken und geistig oder körperlich behinderten Menschen auch Homosexuelle und politische Dissidenten eingesperrt waren, arbeitet die Gruppe in "Marat / Sade" vor allem mit Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Krankheiten. Die Frage danach, wer wen spielt, bekommt so von Anfang an eine ganz andere Bedeutung. Auf der einen Seite suggeriert die Form der Besetzung eine besondere Authentizität. Kurze biographische Texte, die im Verlauf des ersten Teils der Inszenierung auf das obere Bühnenportal projiziert werden und die Spielerinnen und Spieler mit ihren Krankheiten und Behinderungen vorstellen, verstärken diesen Eindruck noch.

Auf der anderen Seite untergräbt die Inszenierung konsequent jede Art von Zuschreibung. Und was ist Authentizität anderes als ein weiteres gesellschaftliches Konstrukt, das von mehr oder weniger willkürlichen Zuschreibungen ausgeht? Wenn die Performerinnen und Performer zu Beginn aus dem Saal heraus auf die Bühne treten und sich dort in einer langen Reihe vor dem noch geschlossenen roten Samtvorhang aufstellen, werfen sie die Blicke auf das Publikum zurück. Sie fordern einen erst einmal dazu heraus, sie über ihr Äußeres, ihre Einschränkungen und Behinderungen, zu definieren. Man wird sich eines Voyeurismus bewusst, der Menschen willkürlich kategorisiert und damit zugleich abstempelt.

Theater als Zwangssystem

Diese Mechanismen, nach denen im Alltag Normalität konstruiert wird, greifen Sahar Rahimi und Manuel Gerst, die bei "Marat / Sade" als Regieteam fungieren und zugleich auch in der Rolle Coulmiers auftreten, im ersten Akt der Performance radikal auf. Ein großes, halbhohes Podest dominiert die ansonsten bis auf eine Topfpflanze leere Spielfläche. Die Tänzerin Dasniya Sommer und der dem Bochumer Ensemble angehörende Schauspieler Lukas von der Lühe schieben nach und nach vier große weiße Kisten auf und vor das Podest, in denen sich Sabine Schrader, Rolf Fey, Roswitha Kons und Renate Stahl verbergen. Sie verkörpern die zentralen Figuren des Stücks, den Ausrufer, Marat, dessen Mörderin Charlotte Corday und den Marquis de Sade. Doch meist sind nur ihre Köpfe zu sehen, die sie oben aus der Kiste herausstrecken. Sobald eine ihrer Figuren Text hat, tritt entweder Dasniya Sommer oder Lukas von der Lühe hinter sie, nimmt ihren Kopf in beide Hände und bewegt ihre Lippen. Sie selbst bleiben stumm. Ihre Worte, die elektronisch gepitcht und so jeglicher Natürlichkeit beraubt werden, übernehmen Sommer und von der Lühe.

Aber nicht nur den vier Hauptdarstellerinnen und Hauptdarstellern wird in diesem ersten Teil des Abends ihre individuelle Persönlichkeit genommen. Während mit ihnen wie mit Puppen gespielt wird, treten die übrigen Ensemblemitglieder meist als "Gespenster" auf. Weiße Bettlaken, die ihnen übergeworfen wurden, nehmen ihnen die Sicht, so dass sie von Sommer und von der Lühe über die Bühne geführt werden müssen. Wenn sie einen Einsatz haben, werden die Laken kurz zurückgeschlagen, so dass ihre Gesichter zum Vorschein kommen. Aber sprechen dürfen sie auch dann nicht. Das übernehmen wiederum die beiden Performer. So erweist sich das Spiel im Spiel als Ausdruck radikaler Fremdbestimmung. Das Ensemble besteht nurmehr aus Körpern und Köpfen, die hin und her geschoben werden. Was sie verkörpern, hat nichts mit ihnen und alles mit den Vorstellungen einer höheren Instanz zu tun. Das Theater erscheint als Zwangssystem, das kollektive Prinzipien vor sich herträgt, aber in seinem Inneren streng hierarchisch organisiert ist.

Revolution als Kindergeburtstag

So dekonstruiert Monster Truck aber nicht nur die Verabredungen des Theaters, die das Publikum oft viel zu selbstverständlich akzeptiert. Die Inszenierung schlägt zugleich einen Bogen zu Marats sozialistischen Ideen und deutet an, wohin sie in der Realität führen können. Folglich löst sich das System der Fremdbestimmung erst mit Marats Ermordung und seinem Begräbnis auf. Die Spielerinnen und Spieler legen ihre Betttücher ab und werfen sie in Marats Kiste, die nun nicht mehr Badewanne, sondern Grab ist. Auf den streng choreographierten ersten Teil folgt ein viel freierer zweiter Akt, in dem die Mitglieder des Ensembles sie selbst sein können und sich mit ihren eigenen Ideen und Talenten in Szene setzen. Aber auch dieser Individualismus bringt in Gestalt des von der Drag Queen Renate Stahl dargestellten Marquis de Sade wieder Zwang hervor.

Die Revolution wird zu einer Art Kindergeburtstag mit einem Schaumbad in einem aufblasbaren Flamingo-Becken und einem riesigen Krokodil, in dessen Maul de Sade schließlich verschwinden wird. Ein wunderbar komisches und doch auch erschreckendes Bild. Die Revolution frisst ihre Kinder, und ein Napoleon-Darsteller ergreift die Macht. Aber die anderen folgen ihm nicht, sondern ziehen sich schwarze Sturmhauben über und strecken die geballte Faust in die Höhe. Der Widerspruch zwischen Gemeinschaft und Individuum, Anarchie und Diktatur, bleibt bestehen. Eine Lösung kann auch das Theater nicht anbieten, selbst wenn es so revolutionär ist wie bei Monster Truck.
 

Sven Westernströer: "Theaterabend in den Kammerspielen lässt staunen und frösteln", WAZ, 30.6.2019

Die Performancegruppe „Monster Truck“ dreht „Marat / Sade“ zur knallbunten Farce. Fast sämtliche Rollen spielen Laien mit Behinderungen.

Einen Hang zum Wagnis kann man der neuen Theaterleitung am Schauspielhaus wahrlich nicht absprechen. Statt die erste Spielzeit mit einem beschaulichen Kehraus zu beschließen, engagieren sie die Berliner Performancegruppe „Monster Truck“, die um keine Provokation verlegen ist, für eine ganz eigene Sicht auf den modernen Klassiker „Marat / Sade“ von Peter Weiss. Nahezu sämtliche Rollen spielen 13 Laien mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Ein Abend, der staunen und frösteln lässt.

Sie heißen Ralf, Roswitha, Daniel und Nicole – und sie wollen nur eins: auf der Bühne stehen und spielen. Der Reihe nach stehen sie zu Beginn der Aufführung vor dem roten Samtvorhang und blicken lange in den Saal. Das Publikum blickt zunächst interessiert, später auch irritiert zurück. Und schnell stellt man sich grundsätzliche Fragen: Ab wann wird aus Zusehen eigentlich Voyeurismus? Und ab wann reduziert man die Menschen, die dort auf der Bühne stehen, einzig auf ihre Behinderungen und auf die Einschränkungen, mit denen sie ganz offensichtlich leben müssen? Wann stempelt man sie ab?

Biografische Notizen werden eingeblendet

Solche Gedanken ziehen sich wie ein roter Faden durch die Aufführung, bei der man nie weiß, wann man mit den Spielern lachen soll und ob man auch über sie lachen darf. Mit derlei Unsicherheiten spielt „Monster Truck“ geschickt.

Und das Regieteam Sahar Rahimi und Manuel Gerst, das auf der Bühne munter (und nackig) mitmischt, geht noch weiter. In kleinen biografischen Notizen, die eingeblendet werden, wird jeder Mitspieler einzeln vorgestellt. Der Zuschauer erfährt über sie eine Menge. Einer leidet an Angststörungen, andere an Autismus, Down Syndrom und Schizophrenie. Auch die wenigen „Profis“ auf der Bühne stehen keinesfalls als „Gesunde“ dar, von Burn Out und Bulimie wird berichtet.

Aus all diesen überdeutlichen Zuschreibungen entwickelt sich langsam eine Art Aufführung, die mit dem klugen Text von Peter Weiss, der eher ein philosophischer Diskurs über Gewalt, Politik, Freiheit und Verantwortung ist, nur noch in Grundzügen etwas zu tun hat. Einzelne Motive und markante Szenen picken sich Monster Truck heraus.

Wie Marionetten geführt

Man könnte auch sagen: Sie lassen das Stück zerschellen und plündern dann das Wrack. Auf entsprechend wackeligen Beinen steht die Dramaturgie. So sind der extreme Sozialist Jean-Paul Marat und der radikale Individualist de Sade in ihren unterschiedlichen Haltungen auf der Bühne kaum auszumachen.

Zentrales Thema bleibt der Tod des französischen Revolutionärs, der 1793 in der Badewanne erstochen wurde, und der Versuch des in einem Paris Irrenhaus eingesperrten de Sade, daraus ein Theaterstück zu machen. Das berühmte „Stück im Stück“, von Weiss in meisterhafter Kopfgeburt entwickelt, wird auch in den Kammerspielen aufgeführt. Dabei gibt es beklemmende Szenen, in denen die Laien in weißen Kisten hockend von einem Schauspieler und einer Tänzerin (Lukas von der Lühe und Dasniya Sommer) wie Marionetten geführt werden. Dabei nehmen sie ihre Köpfe in die Hände und bewegen nur ihre Münder, während die Worte elektronisch verfremdet durch den Saal gepustet werden. Die Spieler selber bleiben stumm, ihrer Sprache beraubt.

Zünftige Schaumparty mit viel Musik

Dem schroffen ersten Teil folgt ein heiterer zweiter, in dem ein riesiges Krokodil aufgeblasen und eine zünftige Schaumparty mit viel Musik gefeiert wird. Eine Drag-Queen (Renate Stahl) gibt die Anführerin, T-Rex singt dazu „Children of the Revolution“, und die ganze bunte Truppe mit ihrem unmittelbaren Spiel erlebt auf der Bühne eine sichtbar gute Zeit. Da haben dann längst auch die Zuschauer dieses fröhliche, zutiefst sympathische Ensemble ins Herz geschlossen und spenden viel Beifall.

Das sagen die WAZ-Theaterscouts

Astrid Hagedorn: Zu Beginn wurde ich mit meinen eigenen Bewertungsmustern konfrontiert. Stelle Fragen nach Zumutbarkeit und Achtung den Protagonisten gegenüber. Das ,Anders-Sein’ des Gegenübers zu integrieren, entsteht im Prozess des Zuschauens. Ein Stück entwickelt sich vor unserem Auge, aus dem Moment heraus. Das eine oder andere Mal stockt mir dabei der Atem: Darf das sein oder ist das schon übergriffig? Macht und Ohnmacht ist ein immer wiederkehrendes Thema. Am Schluss berührt die Schönheit, die zeigt, wie unterschiedlich jeder auf seine Weise ist. Ein wertschätzender Dank an alle Akteure.“

Edgar Zimmermann: „Ein professionelles Theaterteam stellt mit schauspielbegeisterten Mitgliedern der Bochumer Lebenshilfe ein grandioses Spektakel auf die Bühne. Die teils mehrfach behinderten Schauspieler nehmen zunehmend Fahrt auf, sind genau instruiert, werden perfekt durchs Stück geleitet und zusammengehalten. Am Ende des ausdrucksstarken Spektakels frage ich mich als Zuschauer, wer hier eigentlich ,normal’ ist. Den Darstellenden merkt man förmlich die Spielfreude an und die ausgefeilte Bühnentechnik liefert den ungewöhnlichen Hintergrund dazu. Ein völlig neuartiges Theatererlebnis, das mich begeistert hat.“

 

 

Nathalie Memmer: "Liberté, Egalité, Pfefferminztee", Stadtspiegel Bochum, 8.7.2019

Wer „Marat / Sade“, die Kooperation des Schauspielhauses mit dem Performancekollektiv Monster Truck, noch nicht gesehen hat, sollte sich sputen: Bereits am Freitag, 12. Juli, fällt in den Kammerspielen der letzte Vorhang für diese Produktion – und die ist wirklich ein Ereignis.
Manuel Gerst und Sahar Rahimi von Monster Truck stehen als Regisseure mit auf der Bühne und fügen Peter Weiss' ohnehin schon komplexem Bühnenwerk, dessen voller Titel „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ lautet, eine weitere Dimension hinzu: Performer mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen spielen die Insassen des Hospizes, die im frühen 19. Jahrhundert unter Anleitung des ebenfalls internierten Skandalautors de Sade, verkörpert von der Dragqueen Renate Stahl, Marats Ermordung auf die Bühne bringen und das Spannungsfeld zwischen Kollektivismus und radikalem Individualismus ausloten. Der Schauspieler Lukas von der Lühe und die Tänzerin Dasniya Sommer fungieren als Figurenspieler – Sinnbild für das Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Bevormundung, in der Betreuung, bei der Theaterarbeit und anderswo.

Fundamentale Fragen

Dabei werden fundamentale Fragen verhandelt: Wie funktionieren gesellschaftliche Zuschreibungen? Was ist authentisch, was Fiktion? - Im zweiten Teil gerät das Spiel im Spiel im Spiel zeitweilig aus den Fugen, ganz wie in der berühmten Vorlage. Und am Ende übernimmt dann mit Napoleon ein neuer „starker Mann“ das Ruder, aber auch dieses Bild ist mehrdeutig.
Im Zusammenspiel von Performern mit und ohne wahrnehmbares Handicap entstehen berührende Momente. Das ist hier nicht einfach ein Nebeneffekt, sondern integraler Bestandteil einer rundum überzeugenden Inszenierung.

Cornelia Fiedler: "Ihr wollt Authentizität?", Theater heute, Oktober 2019

Voyeurismus ist doch ganz was Feines. Schön im Dunkeln sitzen und Fehler suchen, während die Spieler*innen in Bochum auf die Bühne klettern und sich in langer Reihe vor dem roten Vorhang aufstellen. Man registriert jede ungelenke Bewegung, jeden unsicheren Blick, scannt jeden Körper, der vom durchtrainierten Ensemble-Standardmaß abweicht. Und schon sind wir mitten in der Methode Monster Truck: Das Kollektiv erklärt gesellschaftliche Schieflagen nicht, es stellt sie aus – und das unangenehm konsequent. Zu „Marat/Sade“ nach dem Anstaltsklassiker von Peter Weiss treten sie mit einer Gruppe von Laien an, die meisten von ihnen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung. 

Die Koproduktion mit dem NTGent ist ein scharfes, gelungenes Spiel um Definitionsmacht, Repräsentation, Freiwilligkeit und Zwang. Wenn der Vorhang sich öffnet und die Handlung, die titelgebende „Inszenierung der Ermordung Jean Paul Marats durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade“ beginnt, wird jede*r Einzelne via Übertitel vorgestellt: der Wohnort, die meist bitter öde Arbeitsstelle und die jeweilige Erkrankung, Einschränkung oder Psychiatrieerfahrung – Eisenmangel, Schizophrenie, Trisomie 21. Ihr wollt Authentizität, der Thrill des echten Schicksals auf der Bühne? Bitteschön, hier habt ihr sie. 

Die Frage nach Macht und Repräsentation, eins der zentralen Themen aus Weiss' Original, wird hier in irritierenden Bildern greifbar: Wer eine Hauptrolle haben will, muss sich die öffentliche Befragung durch eine unheimliche Autorität gefallen lassen, die nur durch Übertitel kommuniziert: „Was kannst du besonders gut?“, „Mach mal vor!“, fordert sie. Akteur*innen antworten – und machen mal vor. Dabei ist der Grat von interessiert über gönnerhaft bis zu übergriffig recht schmal: Roswitha Kons, die Charlotte Corday spielen wird, soll offenbaren, ob sie schon mal jemandem wehgetan hat, schließlich spiele sie ja eine Mörderin. „Ja“ lautet die Antwort. Wie aus der Pistole geschossen folgt „Wem?“ und „Warum?“, bis sie knapp antwortet: „Das möchte ich nicht erzählen.“

Dafür müssen die Hauptfiguren Corday, Marat (Rolf Fey), die Ausruferin (Sabine Schrader) und de Sade (Renate Stahl) nun bis zum Hals in weißen Kästen verschwinden. Sie werden wortwörtlich zu Material für eine sendungsbewusste höhere Regie-Instanz: Die Profis im Team, Lukas von der Lühe aus dem Bochumer Ensemble, die Tänzerin Dasniya Sommer und Monster-Truckerin Sahar Rahimi schieben die passiven Hauptdarsteller*innen herum. Als würden sie mit Puppen hantieren, übernehmen sie in schönster Anmaßung deren Text und bewegen dazu sogar, durchaus ruppig, die Köpfe und Lippen der „Figuren“. Die Hauptdarsteller*innen werden zu Objekten gemacht, so wie es Menschen täglich geschieht, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen: Objekte der Fürsorge, der Medizin und Forschung, des Mitleids, der (Schreckens-) Faszination, des Urteils anderer, der Kunst.

Der Text des Dramas ist auf kurze Monologe und Zusammenfassungen eingedampft. Nach der Ermordung Marats, mit der Kons endlich autonom agiert, wechselt der Abend komplett den Stil: von der Stenge des Revolutionärs Marat zum Lustprinzip de Sades. Jetzt übernehmen die, die bisher nur „das Volk“ wie Museumsgespenster unter weißen Tüchern verborgen herumstehen durften. Eine Krokodil-Hüpfburg sprengt das graue Bühnenpodest, die Revolution wird zur Schaumparty. Wer mag, zeigt das, worauf er oder sie Lust hat, es wird betont unkoordiniert gerappt, getanzt und der eine oder andere Popsong inbrünstig persifliert. 

Die fröhlich anarchische Feierlaune kippt, als sich Marquis de Sade, gespielt von Dragqueen Renate Stahl, als Partydiktator*in entpuppt und die anderen mit ihrer Idee vom Individualismus auf Linie bringen will. Schnell erkennt Napoleon (Daniel Beisbart) ein Machtvakuum und kürt sich zum neuen Alleinherrscher. Die Gruppe guckt, wendet sich ab, zieht Sturmhauben über und formiert sich mit erhobener Faust zum stummen Protest. Das geht alles recht schnell, un der zweite Teil fällt gegenüber der klaren Formensprache des ersten unweigerlich ab. Dennoch ist „Marat/Sade“ ein fordernder Abend, der der Theaterszene samt ihrer bis heute oft paternalistischen Repräsentationstradition souverän und rotzig den Spiegel vorhält.